Erinnerungen an ein Leben im "Bilderbuchsozialismus" und seine Folgen
jurgko

Erziehung & Kinder

Erinnerungen an ein Leben im "Bilderbuchsozialismus" und seine Folgen

1. Teil
Geschichtliche, kritische, Vergangenheitsaufarbeitung anhand eines Schriftsteller- Schicksals, zuerst Paradepferd, danach verbotener Autor und nach der Wende fallengelassen.


Sinngemäß war in einem Magazin zu lesen: Nur wer die Vergangenheit kennt, kommt in der Gegenwart zurecht, kann die Zukunft gestalten. Viele Menschen aus Mitteldeutschland empören sich immer wieder über die Medienberichterstattung über die ehemalige DDR.
Die vielen Geschichten, besonders die selbst erlebten, aber auch die einem unmittelbar von Betroffenen erzählt werden, lassen einen die vielschichtigen Ereignisse der DDR-Geschichte besser begreifen. Doch jeder erlebte diese Zeit auf seine Weise.
Schon als Kinder lernten wir die Schokoladenseiten der DDR kennen. Wir durften kostenlos unsere Ferien in Betriebsferienlagern in waldreichen Landschaften mit Spiel, Wanderungen und Gesang verbringen. Was mir aber damals schon nicht behagte, wir mussten jeden Morgen zum Fahnenappell antreten. So schlich sich schon militärische Disziplinierung unmerklich in unser Kinderleben. Ebenso waren wir begeistert von der Zeit bei den Jungen Pionieren, als wir zum Wochenende mit dem Dampflokzug fuhren, danach einen Riesentafelwagen beladen mit unserem Gepäck kilometerweit zogen und schoben bis zu einer Wiese vor dem Stausee, dort zelteten wir und badeten. Unvergesslich diese ungebundene Romantik, das nächtliche Lagerfeuer mit dem riesigen Alukochtopf. Lieder wurden gesungen. Fanfarenklänge tönten übern See, von Echos verstärkt.
Aber vielen Eltern erschreckten, wenn in der Stadt die Jungen Pioniere und die FDJ lautstark trommelnd durch die Straßen zogen, das erinnerte sie an die schlimme Hitlerjugendzeit und Kriegsjahre, ihre Kinder durften nicht mit und diese waren traurig darüber.
In der Schule wurden wir antifaschistisch erzogen, mussten grausame KZ-Lagerfilme mit ausgemergelten Leichenbergen ansehen und die gräuliche KZ-Gedenkstätte Buchenwald mit der Goetheeiche in Weimar aufsuchen. Es gab keine Bananen, Apfelsinen oder Kakao. Oft hungerten wir. Mutter fuhr mit dem Rad Kartoffeln stoppeln. Sogar getrocknete Kartoffelschalen wurden mit in Tetescherteig eingerührt. Als Vater wohlgenährt, braun gebrannt aus der englischen Kriegsgefangenschaft aus Italien kam, schimpfte er auf die armselige Ostzone, die ihn als Kriegsverbrecher behandelte. Obwohl er als Buchhalter dringend gebraucht wurde, musste er schwere Holzstämme im Sägewerk schleppen. Die ihm zustehende Schwerstarbeiter-Lebensmittelkarte wurde ihm verweigert. Die Lebensmittel waren rationiert und wurden per Kartenabschnitte zugeteilt. Vaters Kriegsverbrechen bestand darin, damals bei der Flak angloamerikanische Bomber abzuschießen. Von den Bomben wurden zumeist Frauen und Kinder getötet. Für die amerikanischen Flieger war es ein sportliches Vergnügen, die deutschen wehrlosen Flüchtlinge aus den Ostländern massenweise mit MG-Garben niederzumähen. Die Kriegsverbrechen der Sieger durften nicht einmal kritisiert werden.

Hin und Hergerissen zwischen Zweifeln und Glauben an die DDR

Was Vater aber nie begreifen konnte, dass bei der großen antifaschistischen Propaganda unseres Arbeiter- und Bauernstaates, ein überlebter Kollege erzählte es ihm, nach 1945 nach der Befreiung die Schornsteine in Buchwald/Weimar weiter rauchten. Dort kamen nicht nur viele kleine Nazimitläufer, sondern auch Unschuldige, Angezinkte ums Leben, die großen Naziverbrecher hatten sich im Westen in Sicherheit gebracht.

Später im Zirkel schreibender Arbeiter, als die Luft einmal von ideologischen Aufpassern, insbesondere von einem übereifrigen, wachsamen Hauptmann rein war, stellte ich das riskante Buchenwaldproblem, für viele ein Tabu, zur ideologischen Diskussion. Denn die Zirkel hatten die Aufgabe, die Mitglieder ideologisch aufzuklären. Unser Zirkeldoktor, so nannten wir unseren Leiter, ein Germanist und Kenner für Althochdeutsch, antwortete mit einer Geschichte: In unserer Strasse in Weimar wohnte ein herzensguter Mann, obwohl dieser Gefängnisaufseher war, konnte er keiner Fliege etwas zuleide tun. Ausgerechnet  im letzten Kriegsmonat versetzte man diesen in das KZ Buchenwald. Als dann die Amerikaner in das Lager kamen, das Grauen sahen, stellten sie ihn als ersten an die Wand. Ebenso erging es dem Vater von meinem Chef, Professor K. Dieser hatte vorsichtshalber in der gefährlichen Zeit der Befreiung seine Pistole aus dem Krieg im Garten vergraben. Einer beobachtete das und zinkte ihn an. Auch mit ihm wurde kurzer Prozess gemacht. Wo gehobelt wird, fallen Späne.
Jedoch schon als junger schreibender Arbeiter in der DDR, obwohl zu sozialistischen Idealen erzogen, habe ich mit spitzer Feder viele Missstände aufgespießt, auch besonders die, die ich mit eigenen Leib und Seele erlebte. Später als Aphorismusschreiber spitzte ich Geschichten aus erlebter DDR-Geschichte in meinem Büchlein „Spitzensalat“ kurz, prägnant, geprägt von dem derben Arbeiterhumor unserer sozialistischen Schlosserbrigade, zurecht. Sogar unsere Vorgesetzen nahm ich aufs satirische Korn: „Manches Chefzimmer besteht nicht aus vier Wänden, sondern aus hundert Vorwänden“.
Da den meisten von uns die Reisen in den „goldenen Westen“ und in die große weite Welt verschlossen waren, flüchteten wir geistig in die Bücherwelt. Überall, ob Fernsehen, Rundfunk, Zeitungen oder im Betrieb, herrschte die sozialistische Ideologie, mit der wurde man gegängelt und gezügelt, besonders die ehrlichen, kritischen und produktiven Menschen. Sozialistische Heuchelei besonders der „Hundertfünfzigprozentigen“ gehörten zur Tagesordnung. Politische Witze zu erzählen, war nicht ungefährlich, brachte so manchem Zuchthaus in Bautzen ein.
Unserer Literatur trug anfangs den Stempel „Sozialistischer Realismus“, an dem sich viele aufrieben, die einen fühlten sich reglementiert, aber die orthodoxen Genossen aber, sahen ihre Ideologie bedroht. Ich legte diesen Begriff für mich so aus: Dass man als Schriftsteller realistisch schreiben soll, unsere Probleme nicht verschweigen, natürlich mit einem sozialistischen Standpunkt. Selbst dieser war bei den Lektoren eine Art Auslegware, keinem konnte man es da Recht machen. Der eine kritisierte: „ Schade um Dein hoffnungsvolles Talent, das Du auf das Spiel setzt, Du unterliegst immer wieder einer Schwarzmalerei, sogar die Funktionäre sind bei Dir finstere Gestalten.“ Ein anderer hatte wieder zu meinen Gedichten einen ganz anderen Standpunkt, mit nur einem einzigen Satz fertigte er mich ab: „Deine Gedichte sind undiskutabel; viel zu nett und zu freundlich.“

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