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Über Mich

Perspektive

Leicht bewölkt, blauer Himmel und eine leichte Brise. Genau wie der Nachrichtensprecher, mit einer viel zu sonoren Stimme heute früh im Radio gemeint hatte. Bisher hatte alles gestimmt was er sagte: „Es wird ein schöner Tag werden“. Jedoch war dies lediglich auf das Wetter bezogen, denn nur 30 Sekunden davor berichtete er von Kriegen, Hungersnöten und Elend. Doch dies war heute mal nicht das Problem von Brigitte. Heute mal nicht? Eigentlich war es noch nie das Problem von Brigitte gewesen. Eigentlich hatte sie noch nie Probleme gehabt. Wohl gehütet wuchs sie bisher unter der schützenden Hand von Mutter und Vater auf und brauchte sich über derlei Dinge keine Gedanken machen. Mutter tat zwar immer übermäßig betroffen, wenn sie aus der Zeitung von erst 13-jährigen Vergewaltigungsopfern las, blätterte dann aber immer schnell weiter, um „Das Rezept des Tages“ zu studieren.
Vater meinte immer, „Die sind doch selber Schuld“ und „Wir können sowieso nichts dagegen machen“.
Jedenfalls war heute nach der Einschätzung des Nachrichtensprechers „Ein schöner Tag“ und darauf kam es an. Worauf kam es aber noch an?
Wenn man die Meinung von Mutter und Vater nimmt, dann auf gute Leistungen in der Schule, weil man sonst im späteren Leben keine Perspektive hat. Das heißt, immer schön lernen, möglichst nicht für sich, sonder für die Noten. Und genau das hatte Brigitte bisher konstant durchgezogen. Am Ende des Jahres war sie, wie immer eine der besten Schülerinnen, außer bei Sport, da stand eine 2. „Wieso bist du kein Junge? Der hätte eine 1 gehabt!“ hielt ihr Vater dann vor und meldete sie kurzerhand in der Mädchenmannschaft der örtlichen Fußballmannschaft an.
Die „leichte Brise“ trieb Brigitte die Haare ins Gesicht, doch ganz schön windig hier oben. Außerdem war es ohne Schuhe doch etwas frisch. Aber dies sollte sie jetzt in diesem Moment nicht stören.
Brigitte überlegte, wie Mutter reagieren würde, wenn sie es in der Zeitung lesen würde. Würde sie jemals wieder Zeitung lesen? Wahrscheinlich, sonst könnte sie wenn Tante und Onkel von weit her nicht mit ihren neu errungenem Fachwissen über Aufläufe prahlen.
Würde Vater wieder „Sie war doch selber Schuld“ und „Wir konnten sowieso nichts dagegen machen“ sagen?
Aber darauf kam es ja nicht an, denn heute war ein schöner Tag und mit diesen Gedanken sprang sie vom Dach des 15. Stockwerks eines Hochhauses auf eine belebte Straße.