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Der Progressiv des Verbs erweitert die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten

Plädoyer für die Verlaufsform

I am singing ist im Englischen genauso geläufig wie vaig a cantar (nicht mit vaig cantar verwechseln, das wäre Historisches Perfekt) im Katalanischen, sto cantando auf Italienisch und ik ben aan't zingen. Im Deutsche gilt ich bin am singen (Singen) jedoch als mundartlich, so dass die Verlaufsform durch zusätzliche Adverbien wie gerade ausgedrückt werden muss – zumindest wenn wir normgerecht Hochdeutsch sprechen wollen. Der Duden hat zwar schon in seiner Ausgabe festgestellt, dass sich die Verwendung der Verlaufsform mit am zu einer hochsprachlich anerkannten Form entwickelt – passender wäre wohl am Entwickeln ist – zu der eigentlich konsequenten Billigung und somit zu einer Erhöhung der grammatikalischen Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten auf Hochdeutsch konnte er sich jedoch selbst 2013 noch nicht durchringen. Ob die Verlaufsform als zusätzliche Zeit (wobei es dann in den meisten Sprachen mehrere weitere Zeiten sind, da es so gut wie immer auch eine Verlaufsform der Vergangenheit gibt) oder als Aspekt beziehungsweise Aktionsart eingestuft wird, richtet sich nach der Definition der grammatischen Kategorien durch den einzelnen Sprachwissenschaftler.

Die Verlaufsform in Regionalsprachen
Die niederrheinische Umgangssprache verbindet plattdeutsche Lautung eigentlich mit der hochdeutschen Grammatik – mit einer bedeutsamen Ausnahme. Die Verlaufsform ist am Niederrhein absolut gebräuchlich, vermutlich durch das Niederländische beeinflusst. Dieser Einfluss kann auch zur starken Nutzung der Verlaufsform im Ripuarischen beitragen. Dass es diese Form auch in einigen bairischen Dialekten gibt, lässt sich hingegen nicht mit einer sprachlichen Nähe zum Niederländischen erklären. Im Bairischen ist tun das Hilfszeitwort bei der Verlaufsform, während es im Ripuarischen gleich die beiden Varianten mit tun (ohne am) und sein (mit am) gibt. (Im Jiddischen bedeutet ein Singen tun hingegen, plötzlich und zugleich intensiv mit dem Singen anzufangen). Die Verlaufsform im Hochdeutschen wird auch als Rheinische Verlaufsform bezeichnet. Im Plattdeutschen ist die Verlaufsform vollkommen anerkannt und üblich. Ik bün am Singen ist somit vollkommen normal, ebenso die Vergangenheitsform ik bün am Singen weest.

Groß- oder Kleinschreibung der Verlaufsform
Bei der üblichen Verwendung der Verlaufsform mit am lässt sich im Hochdeutschen sowohl die Kleinschreibung als auch die Großschreibung des Infinitives beobachten. Da der Duden den Progressiv als auf dem Weg zur Standardsprachlichkeit und noch nicht als Bestandteil der deutschen Standardsprache betrachtet, gibt er konsequenterweise keine eindeutige Empfehlung. Ob der einzelne Sprecher den Infinitiv klein oder groß schreibt, richtet sich danach, ob er diesen als substantiviert oder als Bestandteil einer Verbalphrase empfindet. Im Niederdeutschen ist ebenfalls die Kleinschreibung ebenso wie die Großschreibung der Verbgrundform in der Verlaufsform möglich, wobei sich eine etwas stärkere Tendenz zu lütten Anfangsbuchstaben als im Hochdeutschen zeigt. Bei der gegenüber der Bildung mit am selteneren Verknüpfung der Verlaufsform mit beim (ich war beim Bügeln, als das Telefon klingelte), ist hingegen im Hochdeutschen alleine  die Großschreibung des Infinitives üblich.

Was für die Verwendung der Verlaufsform spricht
Die Verlaufsform erweitert die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten, denn am Singen sein und singen stellen zwei gänzlich unterschiedliche Aspekte der Tätigkeit in den Mittelpunkt. Die Umschreibung mit zusätzlichen Adverbien wie gerade ist viel umständlicher als die direkte Verwendung des grammatikalischen Progressivs. Wenn Du diesen Text am Lesen bist, fallen Dir bestimmt ebenfalls Beispiele für eine sinnvolle Anwendung der Verlaufsform ein.