Elly Kreeb

Buchrezension

Roman "Die ganze Wahrheit" von Norbert Gstrein

„Die ganze Wahrheit“ von dem Österreicher Norbert Gstrein soll laut Presse ein Schlüsselroman über die Suhrkamp-Chefin Ulla Berkéwicz – die Witwe von Siegfried Unseld – sein. Um Ähnlichkeiten zu vermeiden, lässt Gstrein seine Protagonistin als Blondine auftreten, die auch ab und zu ihre Haarfarbe wechselt.

Der Roman spielt im Wiener Kleinverlag des Verlegers Heinrich Glück. Dieser hat in zweiter Ehe eine extravagante, weit jüngere  "femme fatal“ jüdischer Abstammung, geheiratet. Dagmar hat einen Hang zur Esoterik und Mystik sowie zum Okkulten. Im Dialog benützt sie gern die Vulgärsprache.

Zum Personal des Kleinverlags gehören: der Lektor und Ich-Erzähler Wilfried, der zynische Broser, mit seiner Amerika-Schwärmerei, die Sekretärin, Frau Hausner, die jedes eingehende Manuskript probelesen darf und last but not least die ehrgeizige Bella, die mit Wilfried eine Affäre hat.

Wilfried ist der Vertraute und Intimus von Heinrich Glück, der ihn zum Nachlaßverwalter bestimmt hat. Er darf das Ehepaar Glück öfters chauffieren und wurde vom Chef gebeten, sich um seine junge Frau zu kümmern. Bei der Heimfahrt vom Burgtheater, wo Dagmars uraufgeführtes Nazi-Stück radikal durchgefallen ist, bittet sie Wilfried kurz anzuhalten. Sie steigt aus und Wilfried erlebt zum ersten Mal ihren Hang zum Vulgären: sie weint, kotzt und nässt ihr rotes Abendkleid ein. Ihr Mann, der von ihrem eigensinnigen Verhalten abgestoßen ist, lässt sich ein Taxi kommen und übernachtet allein im Hotel, bis sie sich wieder beruhigt hat.

Beim ersten Besuch im Verlag sieht Dagmar ein Poster der Verlags-Ikone Anabel Falkner. Dieser katholisch-esoterischen Lyrikerin, die von religiösen Wahnvorstellungen geplagt, sich im Kloster jung erhängte, fühl sich Dagmar wesensgleich. Sie startet einen Vergötterungskult um diese Autorin und bittet Wilfried, den sie zärtlich „Wilfredo“ nennt, mit ihr Anabels Grab zu besuchen. Sie fahren für zwei Tage ins hinterste Dorf von Tirol, wo Dagmar Anabels Mutter interviewt, die ihr verrät, dass der Herr Doktor zwei Winter lang mit Anabel Ski gefahren sei. Von Eifersucht geplagt, erkennt Dagmar, dass Anabel nicht die von ihr vergötterte Figur, sondern ein Mensch mit konkreten Problemen war. Auf dem Friedhof befreit sie eigenhändig Anabels Grab vom Schnee und steht dann ergriffen davor. Auf der Rückfahrt wirft sie Wilfried vor: ‚“Du bist am Grab gestanden, wie ein Klotz, Wilfredo!“’

Text Roman

Zu Hause in der Verleger-Villa entfernt sie alle Fotos von Glücks ehemaligen Geliebten aus dem Fotoalbum. Wilfried, den Glück zu seinem Biografen ernannt hat, nimmt es mit Erstaunen zur Kenntnis. Anfangs war er von Dagmar fasziniert und fühlte sich auch erotisch angezogen. Doch im Verlauf der Handlung wächst sein Misstrauen gegen sie. Er kann sich gegen ihre Exaltiertheit und hysterischen Auftritte nicht durchsetzen, antwortet nur noch sarkastisch oder schweigt völlig.

Auch Heinrich Glück zieht sich mehrfach von seiner flatterhaften Frau zurück. So verbringt er den Jahreswechsel allein in Anabels Dorf, wo er am Silvesterabend, im Bett liegend, Anabels Tagebuch-Fragmente liest. Zurück in Wien, weiß er nicht mehr, wo in aller Welt seine Frau sich gerade aufhält. Wilfried erinnert ihn, dass sie zu einem Kongress für Okkultes nach Südamerika geflogen sei.

Text Roman

Erst beim nahenden Ende von Heinrich Glück nimmt Dagmar ihre Pflichten als treu sorgende Ehefrau ernst. Sie sitzt stundenlang an seinem Bett, singt und liest ihm vor. Dabei umflattert sie den „Sterber“ mit wallenden weißen Gewändern, wie ein Todesengel. Glück  erkennt sie jedoch nicht mehr. In der Wiener Gesellschaft wird nach seinem Tod gemunkelt, Dagmar habe ihren Mann vielleicht vergiftet.

Nach dem Tod des Verlegers ordnet Wilfried in der Hietzinger Villa die Papiere für eine Biografie. Gleichzeitig beginnt Dagmar die ‚Todesarie’ über das Sterben von Heinrich Glück zu verfassen. Nach Fertigstellung des Textes ersucht sie Wilfried, ihr Buch zu lektorieren. Er weigert sich, diesen schwülstigen Text ganz zu lesen und sagt, Glück habe ein solch degoutantes Buch nicht gewollt. ‚“Das wird dir das Genick brechen, Wilfredo“’, droht sie ihm.

Text Roman

Nach einer durchzechten Nacht mit Bella ruft Dagmar in deren Wohnung an. Während Wilfried seinen Rausch ausschläft, verrät Bella der „Verlegerin“ – wie sie die Chefin nennt – Wilfrieds im Suff ausgeplauderte Meinung über das Buch. Als Wilfried endlich nüchtern ist , beschimpft Dagmar  ihn als „Säufer“ und „Grapscher“ und feuert ihn am Telefon. Wilfried, der seine Chefin inzwischen nur noch verachtet, nimmt die Kündigung sowie den  vom gefürchteten Verlagsjuristen, Dr.Mrak, vorgelegten Auflösungsvertrag, kommentarlos entgegen.

Wilfried war nur das letzte Opfer dieser Säuberungsaktion. Noch zu Lebzeiten ihres Gatten hatte Dagmar  das Dienstmädchen aus der Villa mit  Manipulationen an die Luft gesetzt. Ihr folgte Broser, dem sie unterstellte, er treibe sich häufig auf Kinderspielplätzen herum. Sein schleimiger Nachfolger Dachser wurde von Dr. Mrak in Zwangsurlaub geschickt. Die unbedarfte Frau Hausner hatte Dagmar längst zur Hausgehilfin für die Villa degradiert. Nur die intrigante Bella hält ihr am Schluss noch die Treue. Wilfried beginnt kurz nach seiner Entlassung den Roman über „die ganze Wahrheit“ zu verfassen.

Text Roman

Die ganze Wahrheit ist mein erster Roman von  Norbert Gstrein. Bei diesem Autor gefällt mir: sein außergewöhnlicher Stil, seine langen Sätze, seine integrierten Selbstkommentierungen sowie sein Sarkasmus. Das Buch hat mich als ehemalige Angestellte eines belletristischen Verlags interessiert. Aber die Spintisierereien, die diese   Dagmar bei ihren theatralischen Auftritten bietet, sind  mir definitiv zu viel des Bösen! Deshalb war auch die Lektüre dieses Romans nicht  unanstrengend. Obwohl ich die Suhrkamp-Chefin nicht kenne, hatte ich sie bei der Lektüre des Buches ständig vor Augen.

Den imposanten Verleger Siegfried Unseld habe ich bei einer Lesung in der Goethe-Gesellschaft Stuttgart erlebt. Er fühlte sich sichtbar wohl unter uns Schwaben und begrüßte freundlich lächelnd einige Zuhörer in der ersten Reihe. Seinen Text aus dem Buch: „Goethe und der Gingko: Ein Baum und ein Gedicht“ las er souverän, am Pult stehend. Das Signieren seines schmalen Bändchens managte er selbständig, der Kundschaft väterlich zugewandt. Eine Ähnlichkeit mit der blassen Figur des Wiener Verlegers im Roman kann ich nicht bestätigen.